Das Europäische Jugendparlament: Noch vor einem Jahr sagte mir das überhaupt nichts. Als ich 2018 von einer Mitschülerin gefragt wurde, ob ich nicht am diesjährigen nationalen Auswahlprozess teilnehmen wollte, hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, worauf ich mich einließ. Nichtsdestotrotz sagte ich ja, erarbeitete gemeinsam mit sieben Mitschülern eine Resolution, nahm daraufhin an der regionalen und später an der nationalen Auswahlsitzung teil und hatte das große Glück, am 20. September 2019 nach Hamburg zur Internationale Sitzung fahren zu dürfen!
Erst nach und nach verstand ich, was das Europäische Jugendparlament (EYP) eigentlich ist: Ein Verein, der Jugendlichen ab 15 Jahren die Chance bietet, für einige Tage im Rahmen einer Sitzung (auch Session genannt) an einer EU-Parlamentssimulation teilzunehmen. Im Rahmen der Sitzung erarbeitet man zunächst in Ausschüssen (committees) Resolutionen zu aktuellen europäischen Themen, debattiert diese anschließend in einer Vollversammlung (General Assembly, oder auch GA) und stimmt schließlich über die Annahme der vorgestellten Resolutionen ab – und das alles auf Englisch. Die Leistung der Delegierten wird hierbei von einer mehrköpfigen Jury begutachtet, die neben Sprachkenntnis und inhaltlicher Kompetenz auch Teamfähigkeit etc. mit in ihre Bewertung einbezieht. Das Ganze ist als Wettbewerb strukturiert, für den sich sowohl Gruppen (delegations) als auch Einzelpersonen (individuals) durch Einreichen eines sogenannten Topic Overviews bewerben können. Wurde diese Hürde erfolgreich genommen, wird man zu einer Regionalen Auswahlkonferenz eingeladen, auf der man sich für die Teilnahme an der nationalen Session qualifizieren kann. Und hier werden wiederum aus den rund 70 – 80 Teilnehmern zwei Delegationen sowie zwei Einzeldelegierte ausgewählt, die an der jährlichen Internationalen Sitzung teilnehmen dürfen. Bei dieser Internationalen Session sind dann Jugendliche aus 37 europäischen Ländern vertreten.
Jede der drei Sitzungen, an denen ich teilnehmen durfte, war eine großartige Erfahrung. Zum einen lernte ich immer interessante, engagierte und weltoffene Jugendliche kennen, mit denen ich sonst nie in Kontakt gekommen wäre. Dies gilt natürlich insbesondere für die Internationale Sitzung in Hamburg. Die 220 Delegierten, die aus allen Winkeln Europas angereist kamen, machten die Sitzung zu einem einmaligen Erlebnis. Allein in meinem Ausschuss (welcher für „constitutional affairs“, also „konstitutionelle Fragen der EU“ zuständig war) waren Leute aus der Ukraine, Rumänien, der Schweiz, Albanien, Schweden, Polen, Belgien, Finnland, Italien, Lettland, Österreich und den Niederlanden vertreten. Das führte zu ganz verschiedenen Perspektiven auf politische Systeme, die Geschichte Europas, in welche Richtung sich die EU entwickeln solle, etc. Ich hatte die Chance, mich mit einem Briten über den Brexit zu unterhalten, mit einer Polin über die Erinnerungskultur bezüglich der Nazi- Zeit zu sprechen, aber auch mit einem Spanier einfach über die dreisten, deutschen Touristen zu reden.
Bevor man mit der eigentlichen Ausschussarbeit beginnt, hat man immer zunächst ein gruppendynamisches Kommunikationstraining (genannt „Team Building“), um Berührungsängste zu überwinden und ein möglichst sicheres sowie vertrautes Umfeld für das bestmögliche Arbeitsklima zu schaffen. Und in den 10 Tagen, die die Session in Hamburg insgesamt gedauert hat, sind wir zu einer Gruppe zusammengewachsen, in der jeder jeden motiviert, unterstützt und angefeuert hat. Wir haben zusammen hitzige Diskussionen geführt, bis spät in die Nacht an Reden für die GA geschrieben und tranken gemeinsam Unmengen an Kaffee, um uns nach Nächten mit dem absoluten Minimum an Schlaf immer wieder durch einen weiteren Tag voller Arbeit zu bringen.
Zum anderen ist das Ganze neben den sozialen Aspekten vor allem eine akademische Veranstaltung. Jeder Delegierte arbeitet sich in das jeweilige Ausschussthema ein. Diese sind meistens aktuell relevante soziale, ökonomische oder ökologische Probleme, zu denen sich jeder bereits auf einer wenig fundierten Grundlage eine Meinung gebildet, sich jedoch nie wirklich mit der kompletten Problematik in all ihren Facetten auseinandergesetzt hat. Das können Themen sein wie Hilfeleistungen der EU in Afrika, Integration von Flüchtlingen, das demokratische Defizit in der EU und, und, und. Das Interessante daran ist: Egal wie langweilig und trocken das Thema vielleicht zunächst klingt, so sind sie doch alle eigentlich unglaublich spannend. Mein Committee bei der nationalen Sitzung sollte beispielsweise ein Konzept für EU-weite Standards bezüglich der Krankenversicherung entwickeln. Damit hatte ich bis dato nichts zu tun gehabt und – wenn ich ehrlich bin – ist „es“ jetzt auch nicht das fesselndste Thema. Doch während der Session stellte sich heraus, dass ich das völlig falsch eingeschätzt hatte. Es ging hier schließlich um das Menschenrecht auf Gesundheit! Doch wir Schüler sind es natürlich nicht gewohnt, gerade spezialisierte Themen wie diese im Kontext des Schulunterrichts zu behandeln. Beim EYP ist der Prozess ein ganz anderer. Hier steht das Lernen nämlich nicht im Vordergrund. Das Ziel ist es nicht, Gelerntes wiedergeben zu können, sondern konkrete Lösungen zu finden. Dass man dabei mehr über das Thema lernt, ist eher ein unvermeidbarer Nebeneffekt. Somit eignet man sich bei einer Session Wissen auf eine Weise an, wie es in der Schule nie möglich wäre.
In den kleinen Gruppen, welche je nach Größe der Sitzung zwischen sieben und 14 Delegierten variieren können, erarbeitet man eine Resolution, die zunächst die Komplexität der Problematik vorstellt und anschließend versucht, sie zu lösen. Im Zuge dessen eignet man sich nicht nur neues Wissen an, sondern trainiert zusätzlich Schlüsselkompetenzen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft und vor allem einen respektvollen und sachlichen Umgang im Falle von Meinungsverschiedenheiten. Zu denen kommt es nämlich zwangsläufig. Und ich kann zumindest über mich selbst sagen, dass ich bei der einen oder anderen Gelegenheit durchaus mal stur um des Stolzes Willen hartnäckig versuchte, meine Meinung zu vertreten. Doch bei EYP geht es darum, Konflikte auf sachliche Art und Weise zu regeln. Lösungen werden nicht durch Kampfabstimmungen gefunden, sondern durch Dialog. Das bessere Argument gewinnt und Entscheidungen werden nur als Gruppe und nie über den Kopf eines Einzelnen hinweg getroffen.
Und hinzu kommt noch, dass man als Teilnehmer ungemein viel Sicherheit dazugewinnt, wenn es darum geht, die eigene Meinung zu vertreten, auch mal Fragen zu stellen und vor 10, 100 oder sogar 200 Leuten zu reden – alles (auch bei der regionalen und der nationalen Sitzung, da es bei diesen auch internationale Teilnehmer gibt) auf Englisch und damit nicht in der vertrauten Muttersprache.
Dieses Jahr hatte ich das große Glück, all das lernen und erfahren zu dürfen und dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe viele neue Freunde gefunden, wichtige Fähigkeiten im Umgang mit Menschen erworben und eine ganz neue Perspektive auf Europa mit seiner Vielfalt an Kulturen und Menschen, seinen Problemen aber auch seinen Stärken erhalten.